5.4. Interpretation

Ob auf dem „Musen-Mosaik“ Homer dargestellt wird, der dem Brauch der Griechen folgend mit einem Lorbeerkranz () nach einem imaginären musischen Wettstreit gekrönt () wird, oder geschmückt mit einem Erntekranz als Versorger der Domäne dargestellt, bleibt unbeantwortet. Beides ist möglich und wohl auch beabsichtigt, da es den fruchtbaren Diskurs (siehe Abb. 192) mit den Gästen belebte. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass zum einen die aus der hellenistisch-griechischen Kunst überlieferte Blindheit fehlt und zum anderen, Früchte im Blattkranz fehlen, um den salopp mit Sandalen Dargestellten eindeutig als „Erntegott“ zu benennen. Sehr detailgenau sind Sandalen - gelbe Steine imitieren eine edle Verzierung - und Füße modelliert und sprechen für eine große Könnerschaft des ausführenden Künstlers (siehe Abb. 193). Ein Lederriemen trennt den großen Zeh von dem zweiten längeren und der kleinste ragt leicht über die Sandale seitlich heraus. Der Anatomie entsprechend ist hier ein Fuß in griechischer Form abgebildet, passend zum hellenistischen Bildprogramm.

Womöglich ist Homer auch als dialektische Persona, als Figur des pater familias dargestellt. Nach römischem Recht konnte nur ein männliches Mitglied der Familie als römischer Bürger der Familie als Oberhaupt vorstehen und hätte das Recht, geschlossene Schuhe, (lat. calcei) statt Sandalen zu tragen. Vielleicht muss der Dargestellte aber, passend zur Tunika, Sandalen als Zeichen des Sommers tragen. Denn der große Mosaiksaal konnte wegen fehlender Hypokaustheizung in den kalten Jahreszeiten nicht benutzt werden.

Sicher kannte unser Hausherr den berühmten römischen Dichter QVINTVS ENNIVS1. Auf dem „Monnus-Mosaik“ aus der Trierer Ostallee (siehe Abb. 194) ist das verzerrte Brustbild des Literaten mit Blätterkrone auf dem schütternden Haupthaar abgebildet, allerdings in minderer Ausführung.

„… comme à Trèves, Calliope et Homére, cette fois fort bien conservés, mais avec ce détail original et sans signifiant qui donne ici à Homère les traits d’Ennius tel qu’il est représenté à Trèves“ (). Die Ähnlichkeit mit der 50 Jahre älteren Darstellung des Homers aus Vichten ist frappierend: zum einen bartlos, entgegen der oft gängigen Praxis ältere Männer mit Bart darzustellen, zum anderen der gleiche Kranz aus Blattwerk auf dem mit schütteren Haaren bedeckten Kopf als sinnbildliche Emblematik und das große Ohr nicht zu vergessen (siehe Abb. 196). Wird Homer dargestellt, ist darauf hinzuweisen, dass sein Kranz als Auszeichnung nicht immer aus delphischem Lorbeer sein musste. Als Metapher reichte auch eine Blattkrone aus, um den Geehrten als außergewöhnlichen und facettenreichen Dichter auszuzeichnen.

Expand Expand Abb. 192
Naturalistische Wiedergabe eines Blattkranzes oder Dichterkrone auf einer Wandmalerei aus Pompeji vor 79. n. Chr. Der natürlich gebogene Zweig hängt an einem Haken (Quelle: mbac-pa-pompei@mailcert.beniculturali.it)
Expand Expand Abb. 193
Schwarze Steine zur Darstellung für schlichte, dunkle Ledersandalen, der solea, Ausschnitt aus Feld XV (Quelle: MNHA/Rainier Fischer, 1995)
Expand Expand Abb. 194
Mit einem Kranz aus Blattwerk, eine Dichterkrone darstellend, ist der beinahe kahle Kopf des genialen Literaten der römischen Frühzeit, ENNIVS, verziert (Quelle: Rheinisches Landesmuseum Trier)

Ein Fresko aus Pompeji illustriert anschaulich einen solchen musischen Wettkampf mit einem Kandidaten, der kurz vor der Ehrung steht (). Drei bekränzte Männer, folglich verehrte Dichter, lauschen entspannt den Darbietungen eines Mannes. Anmutig und realistisch wiedergegeben, hält der Rechte der Drei, den rechten Arm lässig auf dem Sesselrücken gelehnt, einen Kranz (rot markiert) in der Hand (siehe Abb. 195). Alle Personen sind in lange Gewänder gehüllt. Während der stehende Redner mit der rechten Hand gestikuliert, sitzen die anderen auf Sesseln, die dem unsrigen Sessel, die Kathedra im Zentralmedaillon des „Musen-Mosaik“, nicht unähnlich scheint. Die realistische Szene hat Porträtanspruch.

Expand Expand Abb. 195
Dichterwettstreit mit Ehrung auf einer Wandmalerei aus Pompeji vor 79. n. Chr. Quelle: MNHA/Rainier Fischer nach Foto mbac-pa-pompei@mailcert.beniculturali.it

Anhand der Namensbeischrift, der Attribute und Handgebärden der Dargestellten war für den Eingeweihten die Lesbarkeit des „Musen-Mosaik“ ein Leichtes. Allein die im Verbalcode enthaltenen Informationen gaben dem Domänenbesitzer und den Gästen die Möglichkeit trotz Redundanz im Detail, wie zum Beispiel beim Schmuck, das Mosaik vollständig zu entschlüsseln. Dass ein „Musen-Mosaik“ ohne bilderschriftliche Klarheit und als Brustbilddarstellung ausreichte, um allein anhand der Attribute mit Sicherheit dem Kenner den Inhalt zu vermitteln, zeigt uns die reduzierte Variante aus der Neustraße in Trier (), welche zur gleichen Zeit entstand.

Die herausgehobene Stellung der beiden Musen POLYMNIA, Muse der Hymnenpoesie und VRANIA, Muse der Poesie wird schon allein durch die prominente Positionierung zwischen Speisesaal und Zentralmedaillon angedeutet. Hinzuzufügen ist dann noch die rechtwinklige Ausrichtung der Namensbeischriften zur Hauptsichtachse und die Würdigung mit einer Papyrusrolle. Auch CALLIOPES Stellung, als Muse des epischen Gesangs, adelt die Schriftrolle. Der Dichter HOMERVS und die drei Musen verbinden die Schriftrollen und heben somit diese Gruppe vom Rest der Dargestellten ab. Den frohen Genuss übernimmt die Flötenspielerin EVTERPE, deren Namensbeischrift ebenfalls im rechten Winkel eingefügt ist. Entweder resultiert die eigentümliche Platzierung der Nennung einer Laune des Mosaizisten oder sie ergänzt emblematisch die Eigenschaften der drei anderen Musen. Gesang, Poesie und Genuss müssen in einem besonderen Verhältnis zum Hausherrn stehen und lassen narrative Rückschlüsse auf Selbstdarstellung, Bildung und Vorlieben zu.

Im Gegensatz zu den stereotypen Gesichtszügen der neun Musen spricht die treffende Physiognomie des birnenförmig, schütteren Charakterkopfes mit den weisen Stirnfalten, den großen Ohren, schlankem Kinn und leicht geschürzten Lippen für eine gelungene Portraitarbeit des leitenden Künstlers - der Gutsbesitzer als plastisches Vorbild (siehe Abb. 196). Durch diesen Realitätsanspruch erscheint die Hauptperson, vereint als Dichter und Hausherr, gleichsam in Nahaufnahme. Das leicht gebräunte Gesicht steht im Kontrast zum helleren der Muse (siehe Abb. 197) und „zeigt die klassische Differenzierung von weiblichem und männlichem Inkarnat“ ().

Expand Expand Abb. 196
Homer, der porträtierte, bartlose Charakterkopf mit schütterem Haar und großen abstehenden Ohren. Ausschnitt aus Feld XV (Quelle: MNHA/Rainier Fischer, 1995)
Expand Expand Abb. 197
Ihm gegenüber mit stereotypem Gesichtsausdruck die Muse Kalliope. Ausschnitt aus Feld XV (Quelle: MNHA/Rainier Fischer, 1995)

Von den Dimensionen her ist eine Größendifferenzierung zwischen Homer und Kalliope erkennbar, die Rückschlüsse auf die soziale Hierarchie aufzeigt. Die optische Unterscheidung wird noch verstärkt, in dem Homer raumgreifend frontal auf seinem ebenso präsenten Stuhl ganz oben auf der Rangordnung „sitzt“. Die ausladende Rede- oder Sprechgebärde der rechten Hand ragt über die Bildmitte hinaus und bildet mit der Hand Kalliopes eine vertikale Linie. Der leicht gebeugte Körper in Dreiviertelansicht und der verträumte Blick nach unten vermitteln Demut und unterstellt Kalliope Homer.

Die reizvolle Frage, ob die Redegebärde der Beiden eine lebhafte litearische Diskussion darstellt, bleibt unbeantwortet. Ebenso ob Homers Auftritt auf eine politische Tätigkeit des Domänenbesitzers in der nahen Stadt Trier schließen läßt.

Raffiniert gipfelt die spirituelle Architektur dieses Raumes in dem Zentrierungspunkt der Fluchtlinien. Ausgehend von den Köpfen der acht Musen sind sie auf den Arm der gehobenen Hand Homers und der darreichenden Hand Kalliopes positioniert. Die symbolische Geste des Öffnens, beziehungsweise des Empfangens und Gebens wird durch die Geisteskraft der Musen somit gestärkt. Homer im Zentrum der Strahlkraft nimmt wie selbstverständlich die wohlwollende inspirierende Hilfe und geistige Verbindung der Musen an, um seine in der Antike herausgehobene, literarische Stellung zu legitimieren. Ein Appell für den porträtierten Hausherrn und Domänenbesitzer und als Zeugnis seines Selbstverständnisses zu sehen, in der inszenierten Außenwirkung einer römischen Gesellschaft (siehe Abb. 198).

Expand Expand Abb. 198
Asymmetrisches Achteck - Zentralmedaillon mit dem musischen Paar: CALLIOPE und +HOMERUS+, Ausschnitt aus Feld XV (Quelle: MNHA/Rainier Fischer nach Foto Christof Weber, 2002)

  1. ENNIVS Quintus, der Vater der römischen Poesie, geboren 239 v. Chr. und gestorben 169 v. Chr. in Rudia bei Lecce in Apullien. 184 v. Chr. erhielt ENNIVS für seine schriftstellerischen Verdienste das römische Bürgerrecht. ↩︎

Bibliografie

Balmelle & Darmon 2017
Balmelle, C. & Darmon, J.-P. (2017). La mosaïque dans les Gaules Romaines. Paris.
Deppmeyer 2017
Deppmeyer, K. (2017). Das Inkarnat in Wandmalereien aus Trier von der Antike bis zum Mittelalter. In Inkarnat und Signifikanz. Das menschliche Abbild in der Tafelmalerei von 200 bis 1250 im Mittelmeerraum, S. 472-485. München.
Hoffmann et al. 1999
Hoffmann, P., Hupe, J., & Goethert, K. (1999). In Katalog der römischen Mosaike aus Trier und dem Umland. Trierer Grabungen und Forschungen, 6. Trier.
Istituto della Enciclopedia Italiana 1990-1999
Istituto della Enciclopedia Italiana (1990-1999). Pompei, pitture e mosaici, 1-5. Milano.
Neumann 1998
Neumann, F. (1998). Francesco Petrarca. Hamburg.
Simon 2017
Simon, K. (2017/18). Das römische Mosaik von Vichten. Betrachtung, Analyse und Kontextualisierung [Unveröffentliche Magisterarbeit]. Luxemburg.